Quelle Neue Züricher Zeitung

Kaum waren die Einsatzkräfte nach dem Messerangriff eines Syrers in einem ICE zwischen Regensburg und Nürnberg eingetroffen, da konnte man es auch bereits in zahlreichen deutschen Medien lesen: Der Täter habe einen „psychisch kranken“ Eindruck gemacht, weil er den herbeieilenden Polizisten eilfertig entgegengerufen habe, dass es ihm schlecht gehe und er daher „Hilfe brauche“. Kurz darauf war man sich quasi offiziell einig – der Täter ist psychisch krank und damit natürlich schuldunfähig. Was denn sonst. Doch ein renommierter Psychiater äußert nun gegenüber Schweizer Medien klare Zweifel an dieser These.

Der syrische Flüchtling, der vor Kurzem in einem Zug wahllos auf mehrere Mitreisende eingestochen hat, soll schuldunfähig gewesen sein. So lautet das vorläufige Urteil des Gutachters. Er habe bei dem Mann eine paranoide Schizophrenie und wahnhafte Vorstellungen festgestellt. Aber stimmt diese sehr kurzfristig erstellte Diagnose? Der Tübinger Gerichtspsychiater Peter Winckler hat daran Zweifel: Denn dass ein Tatverdächtiger den Polizisten zurufe, er sei krank, passe überhaupt nicht zu einer akuten Schizophrenie. Zu den eindrücklichsten Eigenheiten akuter schizophrener Krankheitsbilder gehört, dass der Patient objektiv völlig bizarre und realitätsferne Dinge äussert und zugleich aber felsenfest von diesen überzeugt ist. Er ist daher gerade nicht dazu in der Lage, den Wahnsinn, den ihm seine Störung vorgaukelt, als eine Krankheitssymptomatik einzustufen. Der Schizophrene ist davon überzeugt, dass mit ihm alles stimmt. Er hält sich für normal. Wenn der Tatverdächtige den Polizeibeamten vor der Festnahme also zuruft, er sei krank, dann passt das gerade nicht in das charakteristische Bild einer akuten Schizophrenie. Denn erfahrungsgemäß sind diese Patienten vollkommen krankheitsuneinsichtig. Der Spezialist sieht daher bezüglich der gestellten Diagnose fachliche Wiedersprüche : „Wenn beispielsweise jemand, dem in einem forensischen Kontext womöglich eine Strafe droht, seinem Gutachter erzählt, er habe Halluzinationen, dann muss das misstrauisch machen. Zum Wesen der Halluzination gehört, dass der Betroffene diese nicht als Halluzination einstufen kann. Für den schizophren Kranken ist eine Stimme, die er hört, unmittelbare Realität. Der sagt nicht «Ich habe Halluzinationen», sondern guckt zur Steckdose und fragt entrüstet: «Warum kommen da Stimmen raus?» Das Gleiche gilt im Prinzip auch für die Mitteilung: «Ich bin krank.»“. Wie also soll man nun die veröffentlichte Diagnose beurteilen? Wird da vielleicht allzu leichtfertig der Konsens „Flucht“ mit „Trauma“ = „psychisch krank“ hergestellt? Der Tübinger Psychiater jedenfalls geht eher nicht von einem signifikant gesteigerten Risiko für eine Psychose bei Menschen mit Migrationsbiografie aus. Denn es gibt eine umfangreiche klinische Forschung zu sogenannten „Life-Events“. Die geht der Frage nach, welche Faktoren dieses Risiko erhöhen. Und da spielen ganz andere Faktoren eine statistisch relevantere Rolle, vor allem die Gene oder das Thema Drogenkonsum.

Titelbild Quelle: SYMBOLBILD – Thogo, CC BY 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by/3.0, via Wikimedia Commons


Messerattacke im ICE: «Diese Äusserung des Tatverdächtigen macht mich schon sehr stutzig»
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